Nr. 4
Quintessenz
12. April 2020
Solidarität
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Wenn es noch eines Beweises der Gültigkeit dieses bekannten Böckenförde-Diktums bedurft hätte, dann wäre er gerade in der Corona-Krise erbracht. Um der Freiheit willen geht der Staat ein großes Wagnis ein. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die seinen Bürgern gewährte Freiheit aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Diese inneren Regulierungskräfte kann er jedoch andererseits nicht mit rechtstaatlichen Mitteln erzwingen, ohne die von ihm postulierte Freiheitlichkeit aufzugeben.
In unsicheren Zeiten wird deutlich, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Normalität wird zum Privileg. Nach Jürgen Habermas entwickeln sich im öffentlichen Diskurs jene Werte und Verhaltensweisen, die der freiheitliche Staat zum Leben und Überleben braucht. Diese demokratischen Tugenden werden in einer Krise geschärft. Die derzeit von vielen Menschen erwiesene und erfahrene Solidarität wird von einigen wie ein „leiser Mauerfall“ (Katrin Sass) wahrgenommen. Deshalb ist auch die Wortwahl soziale Distanzierung nicht nur irreführend, sondern schlichtweg falsch. Die Corona-Krise erfordert voneinander zwar körperliche oder räumliche Distanz, aber sie schafft gleichzeitig Gemeinschaft, emotionale Nähe und Empathie. Alleinsein muss nicht zwangsläufig bedeuten, einsam zu sein. Gleichwohl gibt Sigmund Graff zu bedenken: „Die erste Hälfte seines Lebens braucht der Mensch zu der Entdeckung, dass er nicht einsam ist. Die zweite zur Revision dieser Entdeckung.“ Gerade in dieser Situation werden unsere Kontakte umso wertvoller und neue Wege zueinander mit Phantasie und Technik erschlossen. Solidarität und Distanz schließen sich nicht per se aus. Vielmehr besteht das Wunderbare der Sympathie in der dem Menschen eigenen Möglichkeit eines Mitfühlens auf Distanz. Helmuth Plessner weist den Habitus der Distanz als eine Tugend der modernen Gesellschaft aus, die unter anderem in der Notwendigkeit des Taktes zum Ausdruck kommt. Das stete Austarieren von Nähe und Distanz ist ein Prinzip der menschlichen Lebensführung und der Gestaltung der Welt. Menschen gehen auf Distanz, um ihr Leben zu sichern, sie managen Distanzen, um das Leben zu führen, und sie vermitteln Distanzen, um neue Formen indirekter Nähe zu schaffen. Auch gibt es einen Unterschied zwischen selbstgewählter, empfohlener, erlittener und verordneter Distanzierung, der nicht aus dem Blick geraten darf. Diese Dialektik von Nähe und Distanz zeichnet die Kultur als Welt des Menschen aus. Gelingt es den Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, dieses Spannungsfeld erfolgreich zu orchestrieren, wird sich zeigen, dass solidarische Gesellschaften mit ihrer inoffiziellen Hymne „You’ll never walk alone“ besser durch die Krise kommen als unsolidarische.
Entscheidungen unter Ungewissheit sind eine besondere Herausforderung für den Rechtsstaat. Auf der 1998 stattgefundenen Wingspread Conference haben sich Wissenschaftler, Juristen und Politiker darauf geeinigt, dass in Situationen großer Unsicherheit stets das Vorsichtsprinzip gelten müsse. Bei existenziellen Krisen entsteht eine Art situatives „Overruling“, nach der Devise „Not kennt kein Gebot“. Auf den ersten Blick sehen sich die Verantwortlichen in der Politik einem kaum zu lösenden Zielkonflikt konfrontiert, welchen Werten in der Krise Priorität einzuräumen ist: Freiheit oder Sicherheit, Geld oder Leben, Nationalstaat oder Staatengemeinschaft. Eine intensivere Analyse kommt jedoch zu dem Schluss, dass das Krisenmanagement eine lediglich temporäre Prioritätenverschiebung erfordern kann. Freiheit ist ein hohes Gut, es gibt aber berechtigte Gründe, sie im Falle einer Bedrohung unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit einzuschränken. In Fall der Corona-Krise ist dies aufgrund der Schutzpflicht des Staates für das Leben sogar verfassungsrechtlich geboten, obgleich sich manche Kritiker bereits in einer „Virokratie“ sehen. Gleichzeitig ist jedoch zu bedenken, dass ohne eine funktionierende Wirtschaft ein lebenssicherndes Gesundheitssystems nicht aufrechtzuerhalten ist. In ähnlicher Weise haben auch einzelne Staaten beim Ausbruch der Epidemie in einem nationalen Affekt zunächst sich selbst geschützt und erst danach aus einer stabileren Position heraus ebenso anderen Staaten geholfen. Wichtig ist, dass die krisenbedingten Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze mit einem adäquaten Verfallsdatum erlassen werden.
Jeder Staat verfolgt eine andere landes- und kulturspezifische Strategie. Zudem befinden sich die einzelnen Länder in einem unterschiedlichen Stadium der Pandemie. Die einen haben sie hinter sich oder behaupten dies zumindest, andere befinden sich im Auge des Sturms, wieder andere haben den Höhepunkt noch vor sich. In China wurde nach einer ersten Phase der Vertuschungspolitik versucht, die Ausbreitung der Infektionswelle mit drastischen Maßnahmen bis hin zur Abriegelung einer Region und digitaler Totalüberwachung zu verlangsamen bzw. zum Stillstand zu bringen. In Singapur und Hongkong bekämpft man die Seuche konsequent mit effizienten Organisationsformen, während in Südkorea kollektiv digitale Methoden angewandt werden. In Italien, Spanien und Frankreich wird in einigen Regionen das Gesundheitssystem über seine Belastungsgrenze in Anspruch genommen, was mit staatlich verordneten Ausgangssperren und Schließungen nicht lebensnotwendiger Betriebe einhergeht. In Deutschland hofft man, die Virusverbreitung durch eine Kontaktbeschränkung unter Kontrolle zu halten. Schweden gewährt seiner Bevölkerung vergleichsweise mehr Freiheit und appelliert an die Eigenverantwortung des Einzelnen. Bemerkenswert ist, dass manche populistische Regime die Bedrohung zunächst unterschätzt haben und nunmehr der Entwicklung hinterherzulaufen scheinen. Dies wird derzeit auf besonders tragische Weise in Großbritannien, den USA und in einigen südamerikanischen Staaten deutlich, möglicherweise auch bald in Russland und der Türkei. Die größten menschlichen Tragödien werden sich jedoch wahrscheinlich in Indien und Afrika ereignen. Angesichts der globalen Bedrohung scheint es fraglich, ob die Staatengemeinschaft darauf überhaupt angemessen reagieren wird. Jede gravierende Krise prüft den Zustand der Welt. Sie testet die Kraft ihrer Ordnung, die Fähigkeit, mit den Folgen umzugehen, sich als lernfähig zu erweisen. Die globale Systemfrage ist längst gestellt. Derzeit wird weltweit nicht nur an der Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes fieberhaft gearbeitet, sondern auch an den entsprechenden Narrativen des besten politischen Systems. Diese Schlacht hat gerade erst begonnen.
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Das Böckenförde-Diktum wurde von dem Staats- und Verwaltungsrechtler und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht, Staat, Freiheit. 2006, S. 112f.
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Hierzu und zum Folgenden Christian Bermes: Wie man Distanz gewinnt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. April 2020.
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Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, herausgegeben von Annika Hand und Christian Bermes, Philosophische Bibliothek 673, Felix Meiner, Hamburg 2019.
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Udo Di Fabio: An den Grenzen der Verfassung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. April 2020.
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Hierzu und zum Folgenden ebd.
Quintessenz würdigt den Grundsatz des ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower:
„Was nicht auf einer einzigen Manuskriptseite zusammengefasst werden kann, ist weder durchdacht, noch entscheidungsreif.“
© Dr. Rüdiger C. Sura