top of page
Nr. 3
Quintessenz
26. März 2020

Geduld

Weltstillstand. Unser Planet Erde gewährt sich ein Sabbatical. Würden sich die Menschen auf der ganzen Welt zwei Wochen lang nicht bewegen, so der renommierte Virologe Alexander S. Kekulé, könnte sich das Corona-Virus nicht weiter ausbreiten, und die Pandemie wäre in kürzester Zeit beendet. Denn das Virus benötigt zum einen eine geeignete Wirtszelle, in diesem Fall den Menschen, um zu gedeihen und sich zu vermehren, und zum anderen den Kontakt zwischen Menschen, um sich vermutlich durch Tröpfcheninfektion zu verbreiten. Die Mobilität der Menschen lässt sich jedoch nur bedingt einschränken. Schon im 17. Jahrhundert stellte Blaise Pascal fest: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

 

So führen wir weiter ein Leben auf Sicht. Auf die Frage an unsere fast 100-jährige Mutter, wie sie mit Blick auf ihre lange Lebensspanne die derzeitige Corona-Krise einordnen würde, antwortete sie, dass sich insbesondere die junge Generation vor eine neue Situation gestellt sieht, da sie ihr Leben plötzlich nicht mehr wie gewohnt planen kann. Und wer nicht planen kann, muss improvisieren. Diese Herausforderung haben jedoch im Moment viele Menschen zu meistern, wie beispielsweise bei der Synchronisation von Homeoffice und Homeschooling. Dabei wird dieser Prozess eine enorme Kreativität freisetzen. Improvisation und Kreativität sind aber auch gefragt, wenn bestimmte Güter und Dienstleistungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Am dramatischsten wird dies, wenn dem medizinischen Dienst die Zeit davonläuft und er bei einem hohen Patientenaufkommen im Rahmen einer Triage die zu behandelnden Infizierten nach der Schwere ihrer Erkrankung einteilen muss. Die Frage, wie die knappen personellen und materiellen Ressourcen auf die Patienten aufzuteilen sind, wird die jeweiligen Entscheidungsträger vor ethisch schwierige Aufgaben stellen. Bei dieser Priorisierung medizinischer Hilfeleistung werden sich voraussichtlich traumatische Erlebnisse nicht ganz vermeiden lassen.

 

Diese Krise offenbart aber noch einen weiteren Mangel in unserer Gesellschaft. Wir müssen uns in Geduld üben. Diese Tugend scheint uns Menschen in unserer schnelllebigen Zeit abhandengekommen zu sein. Ungeduldig stellen wir Fragen und erwarten, wie wir es gewohnt waren, sofortige Antworten: Welche Strategie ist bei der Virusbekämpfung am wirkungsvollsten? Wann können die ergriffenen Schutzmaßnahmen wieder gelockert werden? Was sind die ökonomischen und finanziellen Konsequenzen des derzeitigen Shutdowns? Wann haben wir die Pandemie endlich überwunden? Epidemiologische, wirtschaftliche, rechtliche und ethische Fragen, auf die keiner eine verlässliche und genaue Antwort geben kann. Und je mehr Fragen unbeantwortet bleiben und je länger die Krise dauert, umso ungeduldiger – fast infantil – werden wir. Stefan Zweig konstatierte jedoch: „Ungeduld ist Angst.“ Wenn Zweig recht hat, dann verstärken wir mit unserer Ungeduld noch die Angst vor der Bedrohung. Dagegen gewönnen wir mehr Hoffnung und Zuversicht, wenn wir Paulus Aufforderung an Timotheus befolgten: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“

 

Ein Unbekannter aus einem Brief von Rainer Maria Rilke hat ein Gedicht „Über die Geduld“ komponiert. Rilke und dieser Unbekannte beschwören hier in einer wunderbar behutsamen Weise eine Lebenskunst, die von der Frage ausgeht und nicht von der Antwort, von dem Geheimnis und nicht von der Gewissheit, von der Gelassenheit und nicht von der angestrengten Jagd nach dem richtigen Leben und der raschen, schnellen Lösung für alle Fälle. Man muss sich allerdings darin üben, „die Fragen selbst lieb zu haben“. Sie besäßen etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles. Sie seien „wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind“ – womöglich kaum zugänglich und zunächst rätselhaft, aber eben doch zentral im Prozess einer eigenen Suche nach einem geglückten Leben. Am Schluss heißt es: „Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“

 

Wenn wir in der heutigen Zeit, in der wir für viele Fragen keine Antwort haben, uns zunächst auf die wichtigen Fragen konzentrieren und diese Fragen mit Geduld und Augenmaß leben und so allmählich irgendwann auch in die Antworten hineinleben, dann benötigen wir dafür Mut und Vertrauen, genauer gesagt: den Dreiklang des Vertrauens:

 

  • Selbstvertrauen,

  • Vertrauen auf den und die anderen und nicht zuletzt auch

  • Gottvertrauen.

 

Und daraus erwächst auch wieder Zuversicht.

  1. Alexander S. Kekulé ist deutscher Arzt und Biochemiker und seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Medizinische Mikrobiologie und Virologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Saale).

  2. Der Zweite Brief des Apostels Paulus an Timotheus 1,7.

  3. Dieser Absatz ist entnommen aus: Pörksen, Bernhard, Schulz von Thun, Friedemann: Kommunikation als Lebenskunst, Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens, Heidelberg 2014, S. 207f.

  4. Diese Zeilen stammen aus einem Brief von Rainer Maria Rilke „an einen jungen Dichter“ (Franz Xaver Kappus), in dem sie eingestreut sind. Wer die hier vorliegende Fassung formuliert hat, ist unbekannt. Der Titel „Über die Geduld“ stammt jedenfalls nicht von Rilke selbst! Zum Brief: www.rilke.de/briefe/230403.htm.

Quintessenz würdigt den Grundsatz des ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower:

„Was nicht auf einer einzigen Manuskriptseite zusammengefasst werden kann, ist weder durchdacht, noch entscheidungsreif.“

© Dr. Rüdiger C. Sura

bottom of page