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Nr. 1
Quintessenz
1. November 2016

Ars vivendi - ars moriendi

Wir leben am Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte. Ausgehend von den beiden grundlegenden philosophischen Fragen der Menschheit – Woher kommen wir? und Wohin gehen wir? – betrachten wir den sich verändernden globalen Kontext und wagen einen Blick in die Zukunft. Dabei geht es um die sieben Kräfte, die unsere Welt am meisten verändern, und wie die Gesellschaft als Ganzes und jeder Einzelne die weltweiten Herausforderungen bewältigen kann. Auf der Suche nach Spuren der Zukunft in der Gegenwart identifizieren wir folgende wichtige Triebkräfte des globalen Wandels: (1) die stark vernetzte Weltwirtschaft, (2) die Verschiebung des geopolitischen Gravitationsfeldes, (3) das weltumspannende elektronische Kommunikationsnetz, (4) das schnelle Bevölkerungswachstum und der damit verbundene Ressourcenumgang, (5) die revolutionären Entwicklungen in der Biotechnologie, (6) der Klimawandel und (7) die nur scheinbar unsichtbare Macht der Kultur und Religion.

 

Kein Wandel, der sich in der Vergangenheit vollzogen hat, lässt sich mit dem vergleichen, was der Menschheit bevorsteht. Bereits die enorme Beschleunigung der Veränderungsprozesse macht sie einzigartig. Nur wem es gelingt, die Chancen und Risiken der Zukunft zu erkennen, kann sie auch gestalten. Unser Tun in der Gegenwart kann die Zukunft objektiv verbessern, sofern es das Wissen aus der Vergangenheit berücksichtigt. Ohne Herkunft keine Zukunft. Aber ohne Zukunft nutzt auch die beste Herkunft nichts. Fortschritt ergibt sich aus der wachsenden Komplexität der Gesellschaft und der Notwendigkeit, durch die Weiterentwicklung der Natur- und Geisteswissenschaft das Wissen auszubauen. Die Konzentration auf immer kleinere Abschnitte geht oft auf Kosten der Betrachtung des Ganzen. So entgeht uns die Bedeutung entstehender Phänomene, die für uns unvorhersehbar aus der Vernetzung und der Interaktion einer Vielzahl von Prozessen und Netzwerken hervortreten. Aus diesem Grund liegen lineare Zukunftsprognosen so häufig daneben. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorauszusagen, sondern auf sie gut vorbereitet zu sein. Die Treiber des globalen Wandels bewegen sich im Spannungsfeld zwischen positiven Einflüssen auf die Welt und ihre Menschen und möglichen Gefahren. Um die Welt durch dieses gefährliche Fahrwasser zu steuern, sind die demokratischen Verantwortlichkeiten in der Welt wiederherzustellen, wodurch gewährleistet wird, dass die Menschen diese Themen diskutieren und wohlüberlegt zu tragfähigen Entscheidungen kommen.

 

Wie kann der Einzelne mit diesen umwälzenden Veränderungen unserer Zeit umgehen? Im Wesentlichen geht es um die zwei kardinalen Themen, die alle Menschen überall auf der Welt zu allen Zeiten beschäftigen. Das erste Thema hat eher einen mitwandernden Horizont, das zweite bezieht sich mehr auf einen Moment. Zur Verdeutlichung empfiehlt es sich, unsere Lebenszeit in drei Phasen einzuteilen, wobei die Bewältigung der einen Lebensphase die Vorbereitung für das Gelingen der nächsten ist. Dabei kommt der mittleren Lebensphase eine besondere Bedeutung zu. Aufgrund der Vielzahl privater wie auch beruflicher Ereignisse und Entscheidungen kann sie als die „Rush Hour“ des Lebens bezeichnet werden. Auf diese Zeit bereitet sich der Mensch rund 25 Jahre vor. Davon handelt das erste kardinale Thema: die Kunst des Lebens oder Lebenskunst – wie die Lateiner sagen ars vivendi. Wäre es nicht gut, wenn der Mensch sich mindestens dieselbe Zeit nähme, um sich auch auf seinen Tod vorzubereiten? Dies adressiert das zweite große Thema der Menschheit: die Kunst des Sterbens – lateinisch ars moriendi. Mit besonderer Akzentuierung sagte Sigmund Freud: „Wenn Du leben willst, bereite Dich auf den Tod vor.“ Seneca drückte dies so aus: „Um richtig leben zu lernen, braucht es das ganze Leben. Und was noch mehr erstaunen dürfte, es braucht das ganze Leben, um zu lernen zu sterben.“ Nach Epikur sollten wir uns daher ‚im Sterben üben‘ und den Tod zu unserem Freund machen. Ganz pointiert formulierte dies Seneca: „Dass ich dich liebe, mein Leben, das verdanke ich dem Tod.“ Die klassische Philosophie hat die Lebenskunst und das Bewusstsein des eigenen Todes als zwei Seiten derselben Münze betrachtet. Bei der Kunst des Lebens handelt es sich um den Lebensauftrag des Menschen, der zu werden, der er ist. Der Auftrag besteht darin, sich im Hause seines Schicksals wohlzufühlen, den selbst entdeckten inneren und äußeren Spuren seines Lebens zu folgen, im Großen und im Kleinen, in der kleinen Münze des Alltags. Diese ihm gemäße und eigene existenzielle Leitlinie gibt seinem Leben Sinn und Richtung.

 

Bei der Kunst des Sterbens geht es um die theologische und menschliche Lebensernte. Damit ist nicht das Enden gemeint, schon gar nicht das Verenden, denn das tun nur Tiere, sondern vielmehr um das Vollenden. „Was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende“. Durch technischen Fortschritt versucht die Menschheit seit ihrem Bestehen, nicht nur zu überleben, sondern die Lebensdauer zu verlängern. Dabei läuft der Mensch Gefahr, das Leben zu entwerten. Denn erst die Begrenztheit des Lebens gibt ihm seinen Sinn. Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, vielmehr den Tagen mehr Leben. Wie der Mensch ins Leben hineinwächst, so möge er auch herauswachsen in eine andere Form. So reifen wir während des Zeitraums, der sich von der Kindheit bis zum Alter erstreckt, für eine andere Geburt, ein anderer Ursprung erwartet uns, ein anderer Stand der Dinge. Dieser Tag, den du als den letzten fürchtest, ist der Geburtstag für die Ewigkeit.

Quintessenz würdigt den Grundsatz des ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower:

„Was nicht auf einer einzigen Manuskriptseite zusammengefasst werden kann, ist weder durchdacht, noch entscheidungsreif.“

© Dr. Rüdiger C. Sura

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