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Nr. 6
Quintessenz
30. Mai 2020

Wissen

Die größte wissenschaftliche Entdeckung war die Entdeckung des Nichtwissens. Sobald die Menschen merkten, wie wenig sie über die Welt wussten, hatten sie plötzlich gute Gründe, nach neuem Wissen zu streben, was den wissenschaftlichen Weg zum Fortschritt frei machte. Jahrtausendelang war dieser Weg zum Wachstum versperrt, weil die Menschen glaubten, antike Traditionen und heilige Schriften würden bereits das gesamte relevante Wissen enthalten, das die Welt zu bieten hat. Eine menschliche Kultur, die davon überzeugt ist, schon alles Wissenswerte zu wissen, wird nicht weiter nach neuem Wissen streben. Das war die Haltung der meisten vormodernen Kulturen. Doch die wissenschaftliche Revolution befreite die Menschen von diesem Glauben.

 

Es ist bemerkenswert, dass dieser Prozess nicht bereits in der Achsenzeit vor rund 2500 Jahren einsetzte. In der westlichen Tradition gibt es nämlich aus dieser Zeit einen Text, der die Initialzündung unsere Suche nach Weisheit markiert und unser Denken seitdem bestimmt. Es handelt sich um die 399 v. Chr. von Platon geschriebene Apologie des Sokrates. Die Kernaussage dieses Gründungsdokuments der westlichen Philosophie lautet: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Das ist die Formel, die Weisheit bis heute definiert. Es geht um das Wissen und zugleich um die Grenzen des Wissens. Wir befinden uns auf einer Insel des Wissens, umgeben von einem weiten Meer des Nichtwissens. Die Wissensgrenze ist jedoch verschiebbar. Mit dem Wissenswachstum wächst auch das Nichtwissen. Unser Wissen nimmt durch Informationsverarbeitung und intergenerativen Erfahrungstransfer zu, auch wenn sich dabei die Struktur des Wissens ändert. Gleichwohl gibt es keinen Vorrat an konstruktiven Ideen. Erlerntes vererbt sich nicht genetisch. Wir müssen immer wieder neu anfangen, jeweils entsprechend der aktuellen Ausgangslage. Die abendländische Wissenschaft unterliegt nach dem Kritischen Rationalismus von Karl R. Popper der Falsifikation – im Unterschied zur Ideologie.

 

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das in seinem zeitlichen Bewusstsein in der Lage ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kausale Zusammenhänge zu bringen. Die Antizipation der Zukunft determiniert signifikant unser menschliches Denken und Handeln. Mit der offenen Zukunft ist jedoch ein Ungewissheitsphänomen verbunden, dem man nur mit größtmöglicher geistiger Freiheit und Flexibilität begegnen kann, insbesondere in historischen Momenten, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Unser begrenztes und begrenzt bleibendes Wissen über die unendlich vielen Determinanten der Welt und jedes Individuums verlangt in Gesellschaft und Wirtschaft dezentralisierte Institutionen und Verfahren der Entdeckung und Verarbeitung von Informationen und Kenntnissen, durch die wir unsere Strukturen und Prozesse vor Erstarrung bewahren und sie flexibel, wandelbar sowie lernfähig erhalten. Überdies sollte eine Vermehrung des Wissens auch eine Vertiefung des Gewissens begleiten.

 

In Zukunft wird der Glaube das Wissen sukzessive ablösen. Das dürfte angesichts des Bedeutungszuwachses der Wissenschaft erstaunlich klingen. Es ist jedoch unbestritten, dass die Konstrukte unserer dynamischer und komplizierter werdenden Welt, von immer weniger Menschen durchschaut und begriffen, aber trotzdem – wie selbstverständlich – verwendet werden. Ohne die inneren Vorgänge dieser komplexen Black Boxes zu betrachten, integrieren wir sie im Hinblick auf ihre In- und Outputs in unsere Überlegungen. Der Teil, den wir einfach glauben müssen, ohne die Funktion und Erklärungen zu verstehen, wird immer größer. So erfährt auf fast kuriose Weise eine alte Weisheit eine erneute Bestätigung: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Damit kommt den Erklärenden eine höhere Bedeutung zu als ihrer Erklärung. In Zukunft müssen wir mehr mit Bildern und Emotionen überzeugen als mit Argumenten. Auf Führung kommt es gerade in Krisenzeiten an. Manager managen das Bekannte, Führer managen das Unbekannte.

 

Mit der Pandemie erleben wir auch eine „Infodemie“, ein Zusammenfließen ganz mannigfaltiger Informationen von unterschiedlicher Qualität. Dabei wird uns unsere vielfältige Welt deutlich, die ungemein vernetzt und komplex ist, und es bedarf oftmals großer intellektueller Anstrengungen, um sie zu begreifen, was die Voraussetzung dafür ist, sie zu gestalten. Dieser Herausforderung unterziehen sich Verschwörungstheoretiker nur ungern. Gleichzeitig offenbart diese Entwicklung eine ungeheure Medienbildungslücke, indem wir erfahren, wie Menschen sich in die Echoräume der sozialen Medien zurückziehen und uns über verschiedene digitale Kanäle Falschnachrichten und damit Unwissen zuspielen. Wir alle sind medienmächtig geworden, aber noch nicht alle medienmündig. Wir brauchen mehr Medienbildung und -kompetenz, die die digitale Revolution begleiten.

 

Vor der Corona-Krise waren die meisten davon überzeugt, alles mit Big Data in den Griff zu bekommen, auch unsere Zukunft mit prädiktiver Analytik vorhersagen zu können. Nun zeigt sich die Begrenztheit dieses Ansatzes. Erstens sind die Daten nicht ausreichend groß, zweitens sind eine Reihe von Daten manipuliert, und drittens sind sie teilweise widersprüchlich, so dass auch die besten Computer mit künstlicher Intelligenz aus dem Silicon Valley nicht zielführend sind. Das Nichtwissen bleibt. Jürgen Habermas beurteilt die momentane Situation mit einem prägnanten Satz: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“ Anders ausgedrückt: Wir haben keine Ahnung, aber davon ziemlich viel. Mit Nichtwissen umzugehen, das Nichtwissen auf eine besonnene und gefahrenbewusste Art und Weise auszuhalten – das ist das Kunststück, das noch gelernt werden muss. Bei der Bekämpfung eines unsichtbaren Gegners wie eines Virus müssen wir unser wirkungsvollstes Mittel zum Einsatz bringen: die menschliche Intelligenz. Da jeder genug Verstand zu haben glaubt, ein Fall von Verteilungsgerechtigkeit, dürfen wir zuversichtlich sein, auch der Pandemie angemessene Lösungen zu finden.

  1. Hierzu und zum Folgenden Yuval Noah Harari: Homo Deus – A Brief History of Tomorrow, HarperCollins Publishers, New York 2017, S. 298.

  2. Als „Achse der Weltgeschichte“ bezeichnet Karl Jaspers in seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) die Zeitspanne von ca. 800 bis 200 v. Chr., in der die Gesellschaften von vier voneinander unabhängigen Kulturräumen (China, Indien, Orient und Okzident in Griechenland) gleichzeitig bedeutende philosophische und technische Fortschritte gemacht hatten. Diese wiederum hatten einen prägenden Einfluss auf alle nachfolgenden Zivilisationen, so dass in diesem Zeitraum das geistige Fundament der gegenwärtigen Menschheit gelegt wurde. Die Achsenzeit brachte die Grundkategorien hervor, in denen der Mensch noch heute denkt, und damit den modernen Menschen überhaupt.

  3. So genannt von Rafael Ferber, der 2011 darauf hingewiesen hat, dass die berühmte Verteidigungsrede „in alle Kultursprachen“ übersetzt worden ist und insofern “die Sonne über der Lektüre der Apologie nie untergeht“. Rafael Ferber: Platon: Apologie des Sokrates, München 2011, S. 71. Karl R. Popper, der ein scharfer Kritiker Platons, aber ein Bewunderer des Sokrates war, bezeichnete die Apologie als die schönste von allen ihm bekannten philosophischen Schriften. Karl R. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt, 3. Auflage, München 1988, S. 41.

  4. Welches schneller wächst oder ob beide in gleichem Maße wachsen, ist in der Wissenschaft umstritten. Hierzu sei auf das Kugelmodell des französischen Philosophen Blaise Pascal verwiesen.

  5. Hierzu Alfred Herrhausen: Denkmuster und Realität, in: Denken_Ordnen_Gestalten, Reden und Aufsätze von Alfred Herrhausen, Kurt Weidemann (Hrsg.), Wolf Jobst Siedler, Berlin 1990, S. 67.

  6. Christopher Wanzel: Handbuch der Entwicklung. Wissenschaftlich-philosophische Grundlagen, Modelle und Perspektiven für Veränderungsprozesse. Books on Demand, Norderstedt 2010, S. 41.

  7. Diese Zeiten nennt man auch Bifurkationen oder Tiefenkrisen. Matthias Horx: Die Welt nach Corona. https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/.

  8. Vgl. Alfred Herrhausen, a. a. O., S. 63.

  9. Vgl hierzu und zum Folgenden: Krogerus, Mikael; Tschäppeler: 50 Erfolgsmodelle. Kleines Handbuch für strategische Entscheidungen, 3. Auflage, Kein & Aber, Zürich – Berlin 2018, S. 118f.

Quintessenz würdigt den Grundsatz des ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower:

„Was nicht auf einer einzigen Manuskriptseite zusammengefasst werden kann, ist weder durchdacht, noch entscheidungsreif.“

© Dr. Rüdiger C. Sura

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