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Nr. 5
Quintessenz
01. Mai 2020

Anthropozän

Dieses Jahr ist alles anders. Nur dieses Jahr? Durch die Reisebeschränkungen erleben die Menschen gerade eine Zeitreise. Das Verkehrsaufkommen auf den Straßen ähnelt dem meiner Kindheit. Derzeit fliegen so wenige Flugzeuge wie Mitte der fünfziger Jahre, die Lufthansa hat fast ihre gesamte Flugzeugflotte am Boden. Gleichzeitig spüren wir, wie unser Planet sich langsam regeneriert. Mit unseren fünf Sinnen nehmen wir wahr: Die Luft ist reiner, das Licht klarer, der Geräuschpegel niedriger, das Essen schmeckt intensiver, nicht nur, weil es vom eigenen Herd kommt, und wir tasten uns vorsichtig in eine neue Welt. Auch unser sechster Sinn trügt nicht, wir scheinen unser Gleichgewicht wiederzufinden, aber diesmal geht es um die Ausbalancierung unserer ökologischen Systeme. Wir ahnten es schon vorher, haben aber den Wissenschaftlern nicht die angemessene Aufmerksamkeit geschenkt: Wir lebten über unsere Verhältnisse – präziser gesagt, auch über die Verhältnisse anderer.

 

Infolge der menschlichen Aktivitäten treten wir nach Ansicht vieler Wissenschaftler vom Holozän in ein neues Erdzeitalter ein: ins Anthropozän. Die Menschheit nutzt seit 40 Jahren mehr natürliche Ressourcen, als die Erde erneuern kann. Unser ökologischer Fußabdruck wird permanent größer. Die Regenerierungskapazität der Erde ist angesichts ihrer begrenzten Tragfähigkeit bereits überschritten. 1,7 Erden bräuchte es momentan, um den Ressourcenverbrauch zu decken. Geht das so weiter, sind es 2030 schon zwei Globen. Natürlich verschwindet die Erde aber nicht scheibchenweise, nur weil sie über das Maß beansprucht wird. Was aber verschwindet sind beispielsweise Tier- und Pflanzenarten, die Biodiversität verringert sich. Auch die Überfischung vieler Fischbestände, die Abholzung von mehr Wald, als nachwachsen kann, und der Ausstoß von mehr Kohlendioxid, als die Erde absorbieren oder binden kann, sind Folgen und Kennzeichen des menschlichen Ressourcenhungers. Das Problem der Ressourcenknappheit wird sich voraussichtlich durch Fortschritte in der Nanotechnologie, Gentechnik und künstlichen Intelligenz lösen lassen. Der eigentliche Angstgegner der modernen Ökonomie ist jedoch der ökologische Kollaps. Sowohl wissenschaftlicher Fortschritt als auch Wirtschaftswachstum vollziehen sich innerhalb einer fragilen Biosphäre, und wenn beide Auftrieb erhalten, bringen die Schockwellen die Ökologie ins Wanken. Dabei ist die Bedeutung der Natur, der biologischen Vielfalt und der funktionsfähigen Ökosysteme für Gesundheit, Wohlstand, Ernährung und Sicherheit der Menschheit unumstritten. Aus diesen Gründen muss die Überbeanspruchung der Erde ein Ende haben.

 

Erstmals seit der Spanischen Grippe vor hundert Jahren geben wieder die Gesetze der Natur den Takt vor, nicht politische oder wirtschaftliche Interessen. Durch Bevölkerungsentwicklung, Umweltzerstörung und Klimawandel haben wir das ökologische Gleichgewicht gestört und sind zunehmend tropischen Erkrankungen ausgesetzt. Die Menschen werden sich gerade ihrer Leiblichkeit und Sterblichkeit bewusst. Wir merken, dass wir als biologische Wesen auch Teil der Natur sind und deren Fragilität teilen. Dieser Bewusstseinswandel ist jedoch notwendig, um die Lebensräume der Wildtiere zu respektieren, deren Handel zu verbieten und die Massentierhaltung einzugrenzen, um die Zoonose, d. h. die Krankheitsübertragung zwischen Tier und Mensch, künftig so weit wie möglich zu verhindern. In der Antike und im Mittelalter sind die drei „I“, Informationen, Innovationen und Infektionen, über die Seidenstraße zwischen den damals bekannten Kontinenten transferiert worden. In der Neuzeit hat sich dieser Transfer über die globalen Handels- und Reiserouten zur See und in der Luft noch potenziert. Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie befanden sich beispielsweise in jeder Sekunde 1,8 Millionen Menschen in einem Flugzeug, das entspricht der Einwohnerzahl Hamburgs. Rechnet man diese Zahl hoch, flogen jedes Jahr 4 Milliarden Menschen, also die Hälfte der Menschheit, durch die Welt – und mit ihr wie unsichtbare Truppen auch unzählige Krankheitserreger.

 

Schon Platon hat die Natur als einen Brief Gottes an die Menschheit beschrieben. Wir sind gerade dabei, seine einzelnen Zeilen zu dechiffrieren. Hoffentlich ziehen wir nicht nur die richtigen Erkenntnisse daraus, sondern sind als Weltgemeinschaft auch in der Lage, diese umzusetzen. Im 21. Jahrhundert steht die Menschheit vor einer doppelten Herausforderung: Sie muss die Natur in ihrer ganzen Vielfalt und mit all ihren Funktionen bewahren und gleichzeitig die beschränkten Ressourcen unseres Planeten gerecht auf alle Menschen aufteilen. In den früheren Krisen gab es immer die Option, den Status quo ante wiederherzustellen. Diese Option wird es nicht mehr geben, denn je härter und länger uns diese Pandemie beeinträchtigt, umso eher werden wir diesen „Warnschuss der Natur“ ernst nehmen und unser Verhalten ändern. Viele Menschen fühlen sich durch die pandemiebedingten Einschränkungen bereits jetzt ihrer Lebensqualität beraubt, manche sprechen von einer „verlorenen Zeit“ und meinen damit die Vorhaben, die sie nun nicht mehr verwirklichen können. Bis zur Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes voraussichtlich im nächsten Jahr wird sich vermutlich ein Bewusstseinswandel vollziehen, der unseren Sinn für ganz neue Alternativen schärfen wird. Es braucht die ganze Welt, um eine Pandemie zu beenden, aber es kommt auf jeden Einzelnen an, sie auch nachhaltig zu gestalten.

  1. Unter „Anthropozän“ wird eine neue geochronologische Epoche verstanden. In diesem „Zeitalter des Menschen“ ist der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden.

  2. Hierzu und zum Folgenden Living Planet Report 2018 der Umweltschutzorganisation World Wildlife Fund (WWF), WWF International, Gland, Schweiz, 2018.

  3. Auch die Zunahme der Weltbevölkerung auf derzeit knapp 8 Milliarden Menschen hatte in den zurückliegenden 200 Jahren – wie die Verbreitung des Corona-Virus – einen hyperexponentiellen Verlauf, weshalb man von einer Bevölkerungsexplosion spricht. Die globale Bevölkerung ist allein in den letzten 12 Jahren um 1 Milliarde Menschen gestiegen. In diesem Jahr nimmt sie um die Einwohnerzahl Deutschlands von rund 80 Millionen zu. Statistisch betrachtet werden auf der Erde jede Sekunde 2,6 Menschen geboren. Seit dem Wendepunkt 1962/63 sinkt hingegen die Wachstumsrate der Weltbevölkerung und seit 1989 auch der absolute Zuwachs.

  4. Der Mensch ist das einzige Lebewesen auf der Erde, das Abfall erzeugt.

  5. SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) und MERS (Middle East Respiratory Syndrome) waren nur die Vorboten.

Quintessenz würdigt den Grundsatz des ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower:

„Was nicht auf einer einzigen Manuskriptseite zusammengefasst werden kann, ist weder durchdacht, noch entscheidungsreif.“

© Dr. Rüdiger C. Sura

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